Der Multiple-Sklerose-Podcast

Berentung, Bewegung, Beschäftigung, Beziehung

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Der 49-Jährige New York-Fan erzählt in dieser Episode von Suizidgedanken nach der Diagnose und seiner Erkenntnis durch die Multiple Sklerose. Wie er beim Schießen Entspannung findet und wie wichtig Ziele und eine Beschäftigung sind.


Hier können Sie die Geschichte lesen:

Ich bin 49 Jahre alt, habe die Diagnose Multiple Sklerose im Spätherbst 1997 bekommen. Auslöser war eine Urlaubsreise nach Griechenland. Drei Tage nach Ankunft auf Kreta war ich blind. Es war eine Sehnerventzündung. Daraufhin zum dortigen Augenarzt, der nur festgestellt hat: „Der Sehnerv ist entzündet.“ Nachhause geflogen. Zur Neurologin. Naja. Nach fünf Tagen erfolglosen Probierens mit Cortisontabletten wurde ich stationär eingewiesen in die Poliklinik Neurologie Charité. Die mich nach gut einer Woche ausdiagnostiziert hatten: „Lieber junger Freund, du hast mit 97-prozentiger Sicherheit Multiple Sklerose.“

Ich war latent suizidgefährdet. Weil ich vorher schon Verdacht drauf hatte, hatte ich mich als vermeintlich intelligenter Mensch mit der Krankheit auseinandergesetzt. Für mich war das Bild im Hinterkopf: Blind, Rollstuhl, das war’s. Das Thema hat mich so sehr beschäftigt, dass ich rund 25 Kilo abgenommen hab in drei Monaten. Nach ’nem weiteren halben Jahr hab ich gesagt: „Okay. Bis hierhin ging’s gut. Was geht, geht, was nicht geht, geht später oder eben halt gar nicht mehr. Scheiß was drauf.“ Und, ja, dann hab ich halt angefangen zu leben, wieder. Und hab versucht, mich mit der Krankheit zu arrangieren.

Ich bin einer der ersten, der Tysabri bekommt, und unter Tysabri drei Jahre schubfrei. In dem Jahr davor hatte ich fünf Schübe. Nach den zwei Toten in der Studie wurde es für ein Dreivierteljahr ausgesetzt. Ich hatte auch prompt wieder einen relativ heftigen Schub. Als es wieder zugelassen war, hab ich’s gekriegt. Seitdem bin ich schubfrei. Zurzeit lebe ich wie ein normaler, gesunder Mensch. Ich habe keinerlei Einschränkungen, ich kann machen, was immer ich will. Vielleicht nicht mehr ganz so heftig wie früher. Ich hab’s jetzt im Januar gemerkt. Im Januar fahr ich seit 20 Jahren immer in den gleichen Wintersportort in Südtirol, zum Schifahren und Bergsteigen. Dieses Jahr war die neun Stunden Bergsteigertour doch ein bisschen anstrengend, aber ich hab’s gemacht, also, ganz so behindert, wie die Rentenkasse mich eingestuft hat, fühle ich mich nicht. Berentet wurde ich, weil ich in dem Jahr ’99 wieder fünf Schübe hatte, die auch allesamt relativ schwer waren, inklusive wiederholter Erblindung und Verlust der Gehfähigkeit, will heißen: Rollstuhl. Wenngleich ich diese Schübe relativ gut unter Gabe von Cortison, Cortisonstoßtherapien in den Griff bekommen hab. Also, Rollstuhl war nach fünf Tagen erledigt. Erblindung war nach ungefähr zehn Tagen erledigt oder vierzehn Tagen. Aber es war doch relativ heftig. Der Rentenantrag war einfach, ja: mal probieren. Wenn’s geht, geht’s, wenn nicht, auch gut. Weil es lebt sich wesentlich entspannter, wenn man ein festes Grundeinkommen erstmal hat, weil der ganze Kampf ums Überleben fällt weg.

Wenn ich die Krankheit nicht bekommen hätte, wäre ich heute Chef im Familienbetrieb. Mein Vater hat 2006 gesagt, mit über 70 hinterm Ladentisch stehend, wir haben einen Einzelhandel gehabt, ist eh nichts mehr und ich durfte nicht übernehmen, weil dann meine Rente weg gewesen wäre. EU-Rente und Selbstständigkeit funktioniert nur sehr, sehr, sehr schlecht. Wenn man seit Mitte, Ende der 70er Jahre jeden Tag gearbeitet hat und jetzt auf null reduziert wird, das ist eine fürchterliche Belastung. Am Anfang habe ich es genossen, zuhause zu sitzen und nichts zu tun, aber mittlerweile, mmmh, kommt die Decke bedrohlich nahe. Ich würde mir wünschen, wieder irgendeinen kleinen Job zu übernehmen.

Ich bin in zwei Selbsthilfegruppen aktiv. Wobei die Aktivität sich mehr auf Dienstleistungen beschränkt, da ich noch Laufen und Autofahren kann, bin ich eben halt der Besorger, der Chauffeur und für Neubetroffene teilweise auch der Kummerkasten. Ich versuche, den Leuten den schlimmsten Schock ein wenig zu erleichtern. Manchmal gelingt’s. Naja. Manchmal.

Ich bin nach wie vor Nikotinknecht, will heißen Raucher. Dann versuche ich mich so viel wie möglich zu bewegen. Also, ich wohne mit Absicht im dritten Stock, ohne Fahrstuhl. Habe mit Absicht bis zum letzten Winter ’ne Pelletheizung betrieben in meiner Wohnung. Ich musste die Pelletsäcke hier hochschleppen. Und dann, einmal im Jahr, ist Skifahren, Tourengehen in Südtirol angesagt. Und übers Jahr gehe ich, um zur Ruhe zu kommen, schießen. Präzisionsschießen. Nach zehn Schuss fühle ich mich so, als hätte ich ’ne halbe Stunde geschlafen. Weil man zwingt sich zur Ruhe, man muss absolut die innere Ruhe finden, weil sonst kann man die ganze Sache vergessen. Sonst wär’s schade um die Patrone, die dann irgendwo ins Grüne geht. Es gibt Phasen, da ist man total, ‘tschuldigung, im Eimer. Dann gibt’s wieder Phasen, da könnte man Bäume ausreißen. Und die Schwierigkeit für mich war am Anfang, damit klarzukommen. Mit diesen zwei Seiten der Krankheit. Aber nach so vielen Jahren gewöhnt man sich dran. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Ja, also, meine Jetzige ist eine klassische Internetbekanntschaft. Zum Gaudium aller. Wir haben uns über E-Darling kennengelernt. Und, unser erstes Treffen, sind wir zusammen zu meinem Lieblingsitaliener gegangen. Wir zusammen am Tisch, hab ich gesagt: „Na gut, offene Karten. Du sitzt mit ’nem Krüppel am Tisch.“ „Wie jetzt?“ Hab ich gesagt: „Du, ich habe Multiple Sklerose. Es ist eine chronische, irreparable Krankheit. Kann schlimmer werden, momentan geht’s mir gut. Ich war aber auch schon im Rollstuhl, ich war auch schon blind.“ Naja, und dann haben wir es eben halt probiert. Wir leben im Grunde eben von Anfang an zusammen, mal bei ihr in der Wohnung, mal bei mir in der Wohnung. Ja, und vor ein paar Monaten haben wir gesagt: „Okay, wie der Mensch, der vom Empire State Building springt, am 50. Stock vorbeifliegt, bis hierhin ging’s gut. Schau’n mer mal. Dann können wir es auch offiziell machen. Heiraten wir.“ Punkt.

Ich bin New-York-Fan. Ich bin auch alle paar Jahre drüben. Habe logischerweise auch Freunde. Einer meiner Freunde ist in der Geschäftsleitung des Radisson-Konzerns. Selbiger hat mir eine Stelle als Concierge in einem Radisson-Hotel angeboten. Klang nicht schlecht, würde ich gerne machen. Kann ich mir aber nicht leisten. Weil, ich bin Tysabri-Patient. Oder: Chronisch krank. Ich kriege da drüben als chronisch Kranker keine private Krankenversicherung. Und ich muss jeden Arztbesuch selber cash bezahlen. Ja, deswegen: Hmmm, naja. Der Kasse zuliebe bleiben wir mal lieber hier.

Nein, Suizidgedanken sind vollkommen weg, weil ich habe wieder Ziele, die ich erreichen will und erreichen kann. Also, ein Beispiel ist, wo wir gerade drinsitzen. Das Haus hier gehört meiner Familie und 28 Jahre DDR haben an so einem Altbau aus dem Baujahr 1910 doch ihre Spuren hinterlassen. Und das baue ich wieder auf, Stück für Stück. Teilweise selber, teilweise unter Zuhilfenahme von Handwerkern. Ich bin halt beschäftigt und habe Ziele. Dann die Sache mit der Partnerschaft. Das funktioniert auch hervorragend. Ist auch ein Ziel. Ja, ich lebe nicht mehr ganz sinnlos in den Tag rein.

Ja, die MS hat mir was gebracht. Die Einsicht, dass der eigene Kadaver, der eigene Körper wichtiger ist als alles andere im Leben. Das ist eine Einstellung, die ich früher nicht hatte. Früher war für mich arbeiten, arbeiten, arbeiten wichtig. 60, 70-Stunden-Wochen waren nicht unbedingt die Ausnahme, weil wir haben damals auch Filmausstattungen und Spezial-Effekte gemacht. Und parallel dazu das Ladengeschäft. Also erst Laden, dann Nachträger im Film, dann paar Stunden schlafen, dann wieder ins Geschäft. Und man längster Arbeitstag, kann ich mich erinnern, war mal sechzig Stunden. Damals war ich jung. Ich wusste es nicht besser. Aber so würde ich es heute mit Sicherheit nicht mehr machen. Es gibt andere Sachen, die wichtiger sind als der schnöde Mammon.

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