Der Autor und Reisejournalist Knud Kohr hat seit 2003 die Diagnose MS. Seine Arbeit hat sich seitdem verändert, doch lässt er sich weder vom Schreiben noch vom Reisen abbringen. Gerade ist sein Buch 500 Meter: Trotz Multipler Sklerose um die Welt erschienen.
In dieser Podcast-Episode erzählt Knud Kohr von seiner MS, berichtet von den nachhaltigsten Erlebnissen seiner Reise durch alle Kontinente und was er dabei über die MS gelernt hat.
Hier können Sie die Geschichte lesen:
Ja, meine MS-Diagnose habe im Sommer 2003 bekommen, also schon im Frühjahr 2003 hatte ich das, was dann der erste erkennbare Schub war. Wo ich nicht richtig laufen konnte, wo ich mein rechtes Bein nur noch zwei Zentimeter heben konnte. Und das geschah mir in Lissabon, so einer Stadt, die ja nur aus Hügeln und aus Kopfsteinpflaster besteht. Und was dann natürlich besonders stört und besonders beängstigend war. Ja, die Prognose – also ich habe irgendwann gesagt bekommen, dass das wohl dieser, nicht der schubförmige Verlauf ist, sondern der progressiv progrediente. Das heißt, ein Verlauf, wo es nicht so klar voreinander abgrenzbare Schübe gibt. Sondern wo man jedes Jahr so merkt, na ja, letztes Jahr bin ich ein bisschen besser gelaufen. Und nach ein paar Jahren brauchte ich dann einen Stock. Und für längere Strecken verwende ich mittlerweile zwei Stöcke. Das ist die Prognose. Ja, kann man gar nicht so recht sagen, denn, MS ist ja auch in der Regel keine lebensbedrohliche Krankheit. Also man hat eine bessere Chance von einer Treppe runter zu fallen als andere Leute. Aber man stirbt dann nicht an der MS selbst. Von daher habe ich eine gute Prognose, vielleicht irgendwann mal im Rollstuhl zu sitzen.
Ich habe am Anfang mich entschieden, nicht der Schulmedizin zu folgen, die gleich sagte, „ah, zufälligerweise ist da übermorgen eine Pharmareferentin bei mir in der Praxis und da gibt es eine Studie und da gibt es ganz tolles, neues Interferon, neuer Ableger und…“ das ist eine Entscheidung, die viele Leute fällen, wo ich mich dagegen entschieden habe aus dem Grund, dass ich ja nicht diesen schubförmigen Verlauf habe, wo man einzelne Schübe auch seltener machen kann, wo man den Verlauf dieser Schübe flacher machen kann. Also wo die MS sich zeigt, wo die MS regelmäßig Attacken reitet sozusagen. Das ist bei diesem progressiv progredienten Verlauf nicht so. Es wird so langsam schlimmer, aber der Gegner zeigt sich nicht so richtig. Von daher kam für mich Interferon oder wenn es mal schlimmer ist, Kortison, nicht in Frage. Ich habe zunächst Traditionelle Chinesische Medizin verwendet. Währenddessen habe ich schon mit meinem Trainer gearbeitet. Und der hat mich dann erst mal anderthalb Jahre, ein Jahr, anderthalb Jahre lang eigentlich, ja, zweimal so stark gemacht wie ich vorher war. Dass ich irgendwie eben Stürze ab- fangen kann, gerade Oberkörper, gerade Reflexsachen, Reaktionssachen hat er mit mir geübt. Es ging darum, funktionsfähig, stark und schnell zu sein. Das haben wir ein, anderthalb Jahre lang gemacht. Und dann wurde es leider immer so ein bisschen schlimmer mit dem Laufen. So dass auch der Weg, ein halber Kilometer zum Fitnessstudio, schon ganz schön weit war. Hin ging, zurück, wenn man trainiert hatte, wurde weit, wurde schwer. Und, ja, also habe ich mein Training nach Hause verlegt. Ich mache jetzt jeden Tag, jeden Morgen, wenn ich aufwache, eine Viertelstunde Gymnastik. Und mache Geh-Übungen, also so nach Einbruch der Dunkelheit, wenn mich keiner sieht, gehe ich dann so auf den Innenhof und laufe noch mal so hundert Schritte oder zweihundert Schritte ganz ohne Stock. Oder ich übe einfach Treppensteigen bei mir im Treppenhaus eben. Ja, die beiden Stöcke, die ich verwende zum Laufen für längere Strecken, für kurze Strecken zum Beispiel, wenn ich abends ausgehe mit meiner Freundin zusammen, dann habe ich einen Stock dabei. Wenn ich so durch die Gegend gehe und, ja, dann habe ich, einkaufen oder hier zu diesem Termin oder so, dann habe ich zwei Stöcke. Das sind Nordic Walking-Stöcke. Ich habe mit meinem Trainer darüber geredet, die sind mir von meinem Trainer, der auch seit Jahrzehnten MS-krank ist, empfohlen worden. Weil, der sagte, zwei Krücken wären sicherlich leichter zu benutzen, weil die auch den Unterarm so einklammern. Dann läuft man so vierbeinig quasi mit Krücken. Mit den Nordic Walkern muss man bei jedem Schritt das Gleichgewicht wieder finden. Also man hat zwei Beine mehr sozusagen, aber man muss bei jedem Schritt sehen, wie man das austariert und das wäre für den Gleichgewichtssinn besser. Also während Krücken auch nur den Oberkörper stabilisieren, trainieren die das auch alle so bisschen. Das sind ja Sportgeräte. Das heißt, das ist nebenbei auch ganz gut für den Oberkörper und das wiederum ist gut, wenn ich dann trotzdem mal falle, wenn ich eine gewisse Reaktionsfähigkeit und auch eine gewisse Stärke im Oberkörper habe, dann falle ich nicht einfach auf das Gesicht, sondern bekomme immer noch einen Arm dazwischen. Bin also schnell und kräftig genug, mich abzustützen und dass nichts Schlimmeres passiert.
Also in meiner journalistischen Arbeit sind die Aufträge weniger geworden, wo ich viel rum fahren muss. Weil ich einfach zu vielen Sachen mittlerweile mit dem Taxi muss. Oder irgendwie sonst gefahren werden muss. Wenn ich irgendwie so einen kleinen Auftrag habe, sagen wir mal, ich soll ein Theaterstück besprechen, nächsten Mittag abgeben die Kritik und übernächsten Tag erscheint das dann, das lohnt sich für mich einfach nicht mehr. Weil ich, mit dem Taxi hin und zurück, da sind schon mal 30, 40 Euro weg, kurze Kritik in der Zeitung bringt kaum mehr. Deswegen mache ich das jetzt mittlerweile so, wenn ich mit meiner Freundin mal einen netten Abend, so mal ins Theater gehen und kostet nichts, so in dem Stil mache ich das. Wo ich mich gar nicht habe mich davon beeinflussen lassen ist meine reisejournalistische Arbeit. Ich muss dann von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr organisieren, wie mir geholfen wird am Ort. Aber ich schreibe ja auch Bücher und davon so … das mache ich jetzt mehr. Also ich habe jetzt nach der, nach der, seit der Diagnose kommt jetzt bald das dritte Buch, das vierte ist in Arbeit und das ist dann eher, die Frequenz ist deutlich höher geworden. Weil, das kann ich ja immer machen.
Gerade jetzt veröffentliche ich ein Buch, das heißt ‚500 Meter‘, 500 Meter deshalb, weil das an normalen Tagen die Strecke ist, die ich auf eigenen Beinen noch gehen kann. Was natürlich nicht nur jetzt so tolle Reisereportagen aneinander gehängt sind, sondern wo es darum geht, wie die Weltsicht sich verändert durch die Krankheit. Also wenn jetzt ein Mensch, der keine MS hat und ich vor einer Treppe stehen, wir sehen ja etwas grundsätzlich anderes. Der sieht 20 Stufen, mal eben hoch da und für mich ist das vielleicht ein Hindernis, dass ich ohne getragen zu werden oder so etwas, also wenn kein Handlauf da ist, irgendwo in der Wildnis, alte Tempelanlage, sonst wo, Südostasien, schön auch noch Moos überwachsen die Stufen, dann muss ich unten bleiben.
Die nachhaltigsten Erlebnisse würde ich sagen, da fallen mir, also Reisen mit MS fallen mir spontan ein, ein Tempel in Laos. In Laos war ich in der Nähe von Pakse bei, vor einer Tempelanlage, die so als vergleichbar wichtig wie Angkor Wat in Kambodscha gilt. Also das wichtigste Sightseeing in der Gegend da und es war bloß der Fall, dass tatsächlich diese, was ich eben schon sagte, so eine 300-stufige oder 400-stufige Moos überwachsene Treppe ohne Handlauf da hoch ging. Das konnte ich nicht. Das heißt, mein Fotograf sprang da hoch, hat gesagt, ich mache das mal eben, ich zeige dir das mal eben heute Abend am Computer, die Fotos und ich stand dann aber da mit dem Führer, der natürlich bei mir bleiben musste und ja, es war eigentlich so eine peinliche Situation, weil, der wollte mir das oben zeigen, konnte aber nicht. Der hat mich da ran gefahren, hat sogar den Torwächtern so einen Schein gegeben, dass die mich da durchlassen mit dem Auto und Pipapo. Aber es war zu hoch. Es war unmöglich für mich. Und von daher, ja, kamen wir da so plötzlich so ins reden und ich sah nichts von der Tempelanlage da oben, aber plötzlich fragte ich so, „na ja, bist du denn verheiratet“ und plötzlich erzählt er mir so eine ganz tragische Geschichte von sich selbst, dass er als jüngstes Kind in Laos nicht heiraten darf, weil, das jüngste Kind so lange arbeiten muss oder unverheiratet bleiben muss, bis die Eltern gestorben sind. Und dass, wenn er eine Freundin hat, will er die eigentlich gar nicht haben, weil, ich zitiere jetzt mal ihn, „wer will schon eine Freundin haben, die weiß, dass sie mit jemand rum zieht, der sie nicht heiraten kann und für sie auch nichts Ernstes sein kann?“ Wie gesagt, ich habe den Tempel nicht gesehen, aber ich habe da eine Geschichte gehört, die ich sonst wahrscheinlich mal eben so von einem Führer nicht erzählt bekommen hätte. Und das sind so Situationen, die ich dann öfter mal habe, dass ich das, das ist ja kein bewusster Tauschakt, aber ich weiß, das kann ich nicht machen, aber ich erfahre vielleicht etwas anderes.
Und das Aufregendste war dann einfach, da war ich das erste Mal mit meinen Stöcken unterwegs, hatte die dabei und habe die dann so, habe mir so eingeredet, „naja, nimm sie einfach mal mit, Island, hm, kann man ja dann mal zurückgeben, wenn man wieder da ist, so oder in die Ecke stellen.“ Und dann war ich auch, da war im Zentrum wieder eine Treppe, es gibt dort den, auf Island gibt es den größten europäischen Wasserfall, Dettifoss heißt der. Der Parkplatz ist einen Kilometer von einer Hügelkante entfernt und alles ist umgeben von Lava-Sand, von so einem dicken Lava-Sand und für jemand, der die Füße nicht richtig heben kann, ist das schon mal eine Herausforderung. Ich habe da irgendwie bis zur, bis zur Kante da oben eine Stunde gebraucht vielleicht, da hoch zu kommen. Und dann stand ich vor einer Treppe, 200, 250 Stufen runter, alles nass und glitschig von dem Staub, vom Lavastaub und der Dettifoss spritzt natürlich auch so vor sich hin. Und es gab so ein altes, mürbes Seil, das da, na ja, so das Geländer ersetzte, was man aber mit einem kräftigen Zug einfach hätte durchreißen können, wo man sich auf gar keinen Fall darauf verlassen sollte, wo andere Touristen oben die ich getroffen hatte, die gesagt hatten, „nein, da gehen wir nicht runter“. Und unten der Fotograf winkte, „hey, komm her“, ich höre ihn nicht, weil der Wasserfall so laut war, ich sah ihn aber und da hatte ich dann das Gefühl, ich mache es einfach. Ich habe das dann aufgeschrieben und jedes Mal, wenn ich eine Lesung mache und dieses Kapitel vorlese, bin ich jedes Mal wieder erstaunt, dass ich das überlebt habe. Dass ich da nicht richtig runter gekullert bin und 200 Stufen aus Stein und Holz und allen möglichen, keine sieht aus wie die andere, alle sind nass, die sind auch nicht untereinander so, also wie so eine U-Bahntreppe oder was angeordnet. Dass ich, wirklich, ich bin jedes Mal erstaunt, dass ich das überlebt habe.
Ich habe ein paar Tage mit Indianern im Tipi gelebt in Kanada. Ich habe auf Stuart Island, das ist eine Insel südlich von der Südinsel von Neuseeland, habe ich mich im Urwald verlaufen. Das hat nur zwei Stunden gedauert, dass ich mich verlaufen habe, aber immerhin. Verirren Sie sich mal zwei Stunden im Urwald am Ende der Welt. Ja, das sind so die nachhaltigsten Dinger, glaube ich, ja.
Was ich auf den Reisen gelernt habe ist, wie massiv auch der psychische Anteil von MS ist. Also ich würde sagen, MS ist auch zu 50 Prozent eine psychische Krankheit. Das, ich bitte, das nicht misszuverstehen, dass ich irgendeinem MS-Kranken und auch nur mir selbst sage, „50 Prozent davon ist psychisch, stell‘ dich nicht so an. So. Dann geht das schon.“ Nein. Es geht um andere Sachen. Also wenn ich an etwas guten Mutes heran gehen kann, dann ist bei 500 Metern auch nicht Schluss. Dann kann es auch mal ein Kilometer werden. So. Wenn ich aber von vornherein nicht an mich glaube und sage, „das will ich eigentlich gar nicht“, wenn in mir irgendetwas drin ist und in mir so ein kleines, so ein kleiner, schreiender Säugling ist, der sagt, „äh, will ich nicht, will ich nicht, will ich nicht“, dann sind 100 Meter schon viel zu viel.
Wenn ich den Preis benennen müsste, den die MS mich gekostet hat, dann würde ich sagen, einerseits ist der richtig hoch. Ich bin jemand, der immer viel spazieren gegangen ist. Also beispielsweise, um Gefühle auch mal wegzulaufen. Also das kann ich komplett vergessen. Auf der anderen Seite ist aber auch die Frage, was hat mir denn die Weltsicht gegeben, die neue Weltsicht? Und das war so auch ganz erheblich. Also in diesem Prozess nach der Diagnose fragte ich mich, damals 37-jährig, was auch nicht so ein schlechtes Alter ist, finde ich, um mal darüber nachzudenken, „was hast du denn bis jetzt gemacht, was willst du noch machen“, fragte ich mich, „was willst du denn eigentlich noch tun, so, in diesem Leben?“ Von daher hat diese Zuspitzung auch zu einer Klarheit geführt, was ich denn jetzt machen möchte, die vielleicht viele Leute nicht erreichen, die so im Alltag vor sich hin wurschteln.
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